Grenzland
Vorschlag für
eine Dokumentarfilmreihe
(Rev. 1 vom
06.02.2006)
Was ist Europa?
Schon die Frage muss man eingrenzen. Je nachdem ob man sie
geografisch, historisch, ethnografisch, politisch,
ökonomisch, kulturell oder in einem anderen Sinne stellt,
fällt die Antwort aus. Die Tatsache, dass sich Europa auf
die Fahnen geschrieben hat, weltoffen und tolerant,
multikulturell und integrativ zu sein hat nicht
unmaßgeblich dazu beitragen, dass eine gemeinsame
europäische Identität so schwach entwickelt ist. Auf den
kleinsten Nenner gebracht ist Europa, ebenso wie Afrika
oder Amerika, in erster Linie Raum. Raum wird als
"wahrnehmbar definierter Bereich" beschrieben. Die
Topografie Europas kennt Grenzen. Dies gilt zweifellos auch
für den europäischen Kulturraum, ist geradezu eine
Bedingung für seine Existenz. Abgrenzung schafft Identität,
Entgrenzung Beliebigkeit.
Europa ist
vielfältig und weitläufig, das Interesse des Zentrums an
der Peripherie, milde ausgedrückt, verhalten. Das ist im
Zeitalter globalen Massentourismus ebenso verständlich, wie
es bedauerlich ist. An den Grenzen kann man Sehen lernen.
An den Rändern beginnt die Erosion unserer Pfründe: Kultur,
Wohlstand, Sicherheit. An Demarkationslinien leben die
Schwachen und die ganz Starken. An den Grenzen beginnt
Europa zu brennen.
So vielfältig
Europa definiert werden kann, so unterschiedlich werden die
Grenzziehungen sein. Die Linie verläuft zwischen
Kontinenten und Stadtteilen, zwischen sozialen Schichten
und ethnischen Gruppen, auf der Landkarte und nicht zuletzt
im Kopf. Die einzelnen Grenzen sind keineswegs
deckungsgleich und haben doch immer wieder interessante
Schnittmengen. Hier findet diese Filmreihe ihre
Themen.
Ihr großen Städte
/ Steinern aufgebaut / In der Ebene! / So sprachlos folgt /
Der Heimatlose / Mit dunkler Stirne dem Wind, / Kahlen
Bäumen am Hügel, / Ihr weithin dämmernden Ströme! /
Gewaltig ängstet / Schaurige Abendröte / Im Sturmgewölk. /
Ihr sterbenden Völker! / Bleiche Woge / Zerschellend am
Strande der Nacht, / Fallende Sterne.
Georg Trakl,
Abendland III
Folge 1
Auf dem Landweg
von Berlin nach Teheran reisend, erreicht man nach drei
Viertel der Strecke im äußersten Südosten Europas, dort wo
das christliche Georgien an das muslimische Aserbaidschan
grenzt, die Provinz Kachetien. Die Gegend gehörte im
Altertum zum Königreich Kolchis. In die Heimat Medeas
machten sich die Argonauten auf, um das geraubte Goldene
Fließ wieder nach Griechenland zu holen. Georgien ist eine
der ältesten christlichen Kulturen des Kontinents. Bereits
im vierten Jahrhundert von der heiligen Nina bekehrt, blieb
das Land über die Jahrhunderte ein Außenposten des
Okzident. Es gibt einen Ort, der als Sinnbild dafür
begriffen werden kann: das Kloster "David Gareja". Im
sechsten Jahrhundert nach Christus wirkten dreizehn
assyrischen Väter als Aufklärer in Georgien. Einer davon,
David Garigelli, gründete mit seinen Schülern unter anderem
den Höhlenkloster-Komplex in Udabno. In der kachetischen
Halbwüste sind entlang eines Höhenzugs auf einer Strecke
von etwa 30 km zwanzig Kirchen und eine Vielzahl kleinerer
Objekte in den Fels getrieben. Von hier oben hat man einen
atemberaubenden Blick in die schier endlose
transkaukasische Senke, nach Asien. Der Berggrat wirkt wie
ein wild zerklüfteter natürlicher Schutzwall, die Klöster,
die untereinander mit Signalfeuern kommunizierten, wie eine
Postenkette. Immer wieder wurde die Klosteranlage von
asiatischen Reiterhorden überrannt, allein im Jahre 1060
wurden 6.000 Mönche von den Persern erschlagen. Vor die
Wahl gestellt, auf die Osterfeier zu verzichten und zu
leben oder das Fest zu begehen und im Anschluss zu sterben,
wählten sie den Glauben. Erst nach der Besetzung Georgiens
durch Sowjetrussland, wurde das Kloster geschlossen. Doch
der revolutionäre Traum vom himmlischen Paradies auf Erden
wurde zu einem ganz diesseitigen Albtraum.
Erste Legende:
Gründervater David Garigelli begab sich auf Pilgerfahrt
nach Jerusalem. Vor den Toren der Stadt hielt er inne, las
drei Steine vom Weg auf und kehrte um. Er war nicht bereit.
"Das Allerheiligste verwandelt sich in das größte Unglück,
wenn man nicht reinen Herzens ist."
Es ist alles
gesagt und: "Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein."
Es hat Bestand, auch anderthalb Jahrtausende später. Als
die Poststalinisten 1989 abdankten, hatte sich rund um den
Klosterkomplex eine Bürgerbewegung gebildet und vier junge
Mönche taten wieder Dienst. Unterhalb der Klöster hatte die
Rote Armee einen Panzerübungsplatz eingerichtet. Hier
wurden unter anderem die Truppen trainiert, die dann nach
Afghanistan mußten. Die von Explosionen verursachten
Erschütterungen bedrohten die einzigartigen Baudenkmale,
Flora und Fauna nahm Schaden. Es hat gedauert, doch nun
sind die Russen weg. Wie weiter in einem Land, das von der
eigenen Bevölkerung als Balkon Europas bezeichnet wird? In
der Ebene rotten noch die zurückgelassenen Panzer und
Flugzeugwracks vor sich hin.
Zweite Legende:
Gründervater David fragte den Drachen, der regelmäßig die
Antilopenherde der Mönche heimsuchte, was er tun könne,
damit das Töten ein Ende hat. Der Drache begehrte zu einer
Quelle geführt zu werden, in der er baden könne. David tat
das Verlangte, doch als der Drache am Wasser stand, tötete
Gottvater das Wesen. David fragte nach dem Grund, er hatte
sich doch schon friedlich mit dem Drachen geeinigt. Darauf
bekam er zur Antwort, dass es unausweichlich war, denn der
unreine Drache ist das Böse, welches die Quelle vergiftet,
den Bach, den Fluss, den See, das Meer - einfach alles.
Die Geschichte in
ihrer alttestamentarischen Härte wirkt seltsam unzeitgemäß.
Wir leben eine Kultur des Vergleichs, in der Toleranz ein
zentrales Element darstellt. Das ist alles gut und richtig,
doch verlieren wir nicht zuweilen dabei unsere Mitte, den
Kern? Vielleicht braucht es solche Stellen, Plätze im
Grenzland, Orte der Extreme, an denen man sich erden kann.
Die ersten Zaren Georgiens lebten immer auch eine bestimmte
Zeit das Leben eines Mönches in den Klöstern, so wurde das
Band zwischen der weltlichen und spirituellen Macht
geknüpft. Dato Godzadze, Bürgerrechtler und Seismologe
vertritt die Auffassung, dass es auf der Erde Punkte mit
messbaren geophysikalischen Anomalien gibt. Menschen hätten
sich zunächst an solchen Flecken bevorzugt niedergelassen.
Je weiter sie im Prozess der Zivilisation voranschritten,
desto mehr entfernten sich die Menschen von der
ursprünglichen Natur und verließen diese Orte. Doch es
blieben heilige Plätze von hohem spirituellem Wert für die
Gesellschaft. Die destruktive Energie des letzten
Jahrhunderts hat auch hier Wunden gerissen. Viele der
farbenprächtigen Fresken sind durch in den Fels geritzte
Trivialitäten schwer beschädigt worden. Ein zufälliges
Datum und ein flüchtiger Name dokumentieren Angst und
Selbstüberschätzung, das Auslöschen der Gesichter der
Heiligen Hilflosigkeit und Hass. Bilderstürmerei
gezüchteter Dummheit, die meint, nichts wäre vor und schon
gar nichts nach ihrer armseligen Existenz von Bedeutung.
Obwohl man die Spuren der Schändung überall findet, wirkt
der Ort in seiner Ausstrahlung nicht beschädigt. Das Wort
von der Entschleunigung beschreibt vielleicht am
treffendsten die Atmosphäre des Höhlenklosters, dessen
einzelne Objekte teils nur durch mühselige Kletterei auf
schmalsten Pfaden erreichbar sind. Die visuellen Eindrücke
treffen mit einer Wucht, die kaum in Worte zu fassen ist.
Im Winter weht ständig Schnee heran, harte Kontraste prägen
das Bild, die Landschaft wirkt in dieser Jahreszeit
ursprünglich und reduziert. Im Frühling dampfen die
bronzefarbenen Felsen, die Halbwüste verwandelt sich für
kurze Zeit in ein wogendes Blumenmeer. Im Sommer ist das
Land sonnenverbrannt, das Spiel der Rottöne in dem vielfach
gefalteten Gelände ist von unendlicher Mannigfaltigkeit.
Eine Landschaft, die aus der Zeit gefallen zu sein scheint,
Europa, Grenzland.