KRIEG
IM KOPF
Eine
sehr unvollständige Geschichte des Schachspiels in der
Sowjetunion
Materialien
für einen Dokumentarfilm
»Man
sagt immer, die Lebenszeit ist kurz, allein der Mensch kann
viel leisten, wenn er sie recht zu benützen weiß. Ich habe
keinen Tabak geraucht, nicht
Schach gespielt,
kurz nichts betrieben, was die Zeit rauben könnte."
J.W. Goethe, 1822
Einleitung
Ich bin kein Schachspieler. Ja, ich beherrsche die
elementaren Regeln (wer nicht?), spiele auch ab und an eine
Partie, doch von Leidenschaft keine Spur. Ich habe eine
vage Idee davon, dass eine gelungene Kombination begeistern
kann, dass die Stellung der Figuren auf dem Brett auch eine
ästhetische Dimension hat, dass ganze Partien wie
kontrapunktische Kompositionen gelesen werden können, ich
ahne das alles, doch ich weiß nichts davon. Dieses Spiel
ist ein Kosmos. Ich bin dafür zu klein, wenn ich es spiele,
will ich bloss gewinnen. Das setzt mich so unter Druck,
dass für nichts anderes Raum bleibt. Genuss ist was anderes
und wie Schach zur Entspannung gespielt werden kann, wird
sich mir wohl nie erschließen. Vermutlich bin ich zu
unkonzentriert, denkfaul und langsam. Trotzdem, ich
bewundere die Schachmeister! Sie sind erleuchtet.
Nachdem das klargestellt ist, nun zum Film. Darin möchte
ich mich mit der sowjetischen Schachschule beschäftigen,
die ein knappes Jahrhundert prägend für die Geschichte des
Schachs war. Es geht um diesen sehr speziellen Denksport im
Kontext von gesellschaftlichem Fortschritt und Terror, von
totalitärer Doktrin und Individualität. Es ist die Rede von
Sport und Politik im Spannungsfeld von Dominanz und
Unterordnung. Geistige Entgrenzung trotz oder durch extreme
räumliche und ideologische Begrenzung? Ich denke, es
ergeben sich in diesem Zusammenhang eine ganze Reihe
interessanter Fragestellungen jenseits der nur eine
Minderheit begeisternden schachtheoretischen Probleme, was
eine Beschäftigung mit dem Thema auch in Zeiten des
Quotenjournalismus durchaus rechtfertigt.
Schachrevolution
Natürlich drängt sich zu Beginn die Frage nach der Quelle
auf. Warum um alles in der Welt hat sich das
bolschewistische Regime, das für sich in Anspruch nahm, die
Diktatur der Arbeiter (und später auch der Bauern) zu
errichten, ausgerechnet für den Schachsport so begeistert?
Die Tatsache, dass Schach um die Jahrhundertwende weltweit
immer populärer wurde (seit 1886 wurden Weltmeister gekürt)
kann in Anbetracht der weiteren Entwicklung nicht als
hinreichender Grund angesehen werden. Schach gilt bis heute
als Sport der Intellektuellen und beileibe nicht als
originär proletarischer Zeitvertreib. Doch vielleicht ist
eben hier die Erklärung zu suchen. 1917 putscht sich in
Russland eine Splittergruppe der russischen Intelligenz,
stellvertretend für das Proletariat, an die Macht. In einem
extrem zentralistisch ausgerichteten Gesellschaftsmodell
steht die Partei der Bolschewiki an der Spitze. Lenin ist
ihr unangefochtene Führer und er ist begeisterter
Schachspieler. Zu simpel für einen Ursprungsmythos? Gut,
sehen wir weiter. Nach dem Bürgerkrieg und der
vorübergehenden Stabilisierung der Macht ist die Schaffung
eines revolutionären Bewusstseins in Arbeiter- und
Bauernschaft, das ihnen von der Partei per se abgesprochen
wird, von existenzieller Bedeutung. Alexander
Ilin-Zhenewski ist 1920 als Kommissar der Allgemeinen
Reservistenorganisation in Moskau mit der körperlichen und
geistigen Vorbereitung junger Männer auf ihre Einberufung
in die Arbeitermilizen, später die Rote Armee, befasst. Der
Großmeister und alter Bolschewik, der schon im Exil mit
Lenin Schach gespielt hat, initiiert die erste
RSFSR-Meisterschaft in Moskau. Man stelle sich das einmal
vor: In den Städten herrscht Hunger, in den wenigen
arbeitsfähigen Fabriken streikt der Prolet, auf dem Land
wird brutal konfisziert was essbar ist, verzweifelte
Bauernaufstände sind die Folge, die sogleich erbarmungslos
niedergemetzelt werden. Es herrscht Kriegskommunismus, der
"Rote Terror" ist entfesselt und wütet gegen das eigene
Volk. Die Revolution badet im Blut und nun ergeht folgender
Befehl: „Am 1. Oktober findet in Moskau ein Schachturnier
statt. Ich befehle, den Bezirk von diesem Turnier umfassend
zu informieren. Spätestens bis 15. September sind nach
Moskau … Angaben über Turnierinteressenten zu melden. Über
die zugelassenen Teilnehmer wird telegrafisch
benachrichtigt.“ Der Befehl duldet keinen Widerspruch.
Nebenbei bemerkt offenbart sich in dieser knappen Anordnung
ein Erfolgsgeheimnis sowjetischen Sports: die konsequente
Militarisierung verbunden mit umfassender Mobilisierung
wird in kurzer Zeit zu einem potenten Kader führen. Lenin
ist überzeugt, dass „der Mensch verbessert werden kann. Der
Mensch kann so gemacht werden, wie wir ihn haben wollen.“
Auf diesem Weg der Transformation menschlicher Natur ist
Schach ein Hilfsmittel, nach Lenins Überzeugung: „Gymnastik
des Verstandes“. Schön ist in diesem Zusammenhang, dass dem
Bauern nach den Schachregeln die Möglichkeit der
Verwandlung innewohnt. Er erreicht den gegenüberliegenden
Spielfeldrand und wird zu einer höherwertigen Figur. Die
Sowjets haben diese Metamorphose ihrer Mushiks
jahrzehntelang durch Hungersnöte, Zwangskollektivierungen,
Massenerschießungen und Deportationen vergeblich erzwingen
wollen.
Sommer 1920, spätestens nach ihrer militärischen Niederlage
in Polen, wurde den Bolschewiki endgültig klar, dass der
Revolutionsexport gen Westen gescheitert war. Sie waren
allein, umgeben von Feinden und das eigene Volk
rebellierte. Wer denkt da an Schach? Für mich hat folgende
These viel Charme. Angesichts des herrschenden Chaos und
des drohenden Untergangs gab es eine tiefe Sehnsucht nach
Ordnung, Regeln, Berechenbarkeit. Schach als
Organisationsprinzip, als Metapher. Das Quadrat des
Spielfelds hat 64 Felder. Abschied von der Weltrevolution -
aber unendliche Möglichkeiten innerhalb der Grenzen. Dazu
keine Grautöne, nur Schwarz-Weiß, wir oder sie. Gut,
vielleicht zu weit hergeholt, doch Fakt bleibt, seit den
20ern wird Schach unter aktiver Förderung der Partei zum
Volkssport gemacht. Ich bin kein Freund von Statistiken,
doch die muss ich bringen: 1923 gab es in der Sowjetunion
eintausend registrierte Schachspieler, 1929 waren es
150.000, 1960 spielten zwei Millionen Sowjetbürger
organisiert Schach. Zum Vergleich, der US-Schachverband
hatte 1962 ganze 10.000 Mitglieder. Also das nenne ich
konsequente Mobilisierung der Massen.
Opfern um zu siegen
Die Geschichte der sowjetischen Schachschule beginnt mit
einem Trauma. Der Pfahl im Fleisch hat einen Namen:
Alexander Aljechin. Das Jahrhunderttalent stammt aus einer
Moskauer Aristokratenfamilie und wird 1919 in Odessa
verhaftet. Der Spionagevorwurf bringt ihm ein Todesurteil
ein. Es kursiert das Gerücht, dass ihn Trotzki im Gefängnis
besucht und nach der obligaten Partie Schach seine
Freilassung erreicht. Tatsache ist, dass ihm sein schon
damals herausragender Ruf als Schachspieler das Leben
rettet. Fortan arbeitet er als Untersuchungsrichter bei der
Hauptverwaltung der Polizei, später auch als Dolmetscher
für die Komintern. 1920 tritt Aljechin im schon erwähnten
Moskauer Turnier an, siegt und wird erster Landesmeister
der Sowjetunion. Trotz des Erfolges wird er wieder von der
Geheimpolizei vernommen. Das genügt, der enteignete Adlige
flüchtet 1921 in die Schweiz. Im gleichen Jahr verliert der
Deutsche Emanuel Lasker in Kuba die Schachkrone an José
Raoul Capablanca. Sechs Jahre später ist Aljechin
Weltmeister - allerdings nicht mit einem sowjetischen
sondern einem französischen Pass. Das ist bitter, denn er
wird den Titel (mit einer Unterbrechung) bis zu seinem Tode
1946 tragen. Und es kommt noch derber. Während der deutsche
Jude und Exweltmeister Lasker 1935 Zuflucht in der
Sowjetunion findet, Schach propagiert und sowjetische
Meisterspieler trainiert, hofft Aljechin auf einen Sieg der
Deutschen über die Bolschewiki und lässt sich in die
nationalsozialistische und antisemitische
Propagandamaschinerie einspannen. Er spielt Turniere und
arbeitet als Kulturassistent von Hans Frank, dem
schachbegeisterten Generalgouverneur der besetzten
polnischen Gebiete. Nun sollte man annehmen, dass die nicht
gerade als duldsam und versöhnlich bekannte
Sowjetnomenklatur Aljechin nach diesem erneuten Sündenfall
lautstark an den Pranger stellt, ihn als typischen Sohn
seiner Klasse brandmarkt, um ihn danach als Unperson dem
Vergessen anheim fallen zu lassen. Doch nichts dergleichen
geschieht. Im Gegenteil, man bemüht sich zwei mal sehr
ernsthaft um das Zustandekommen eines
Weltmeisterschaftskampfes. Das scheitert einmal am Ausbruch
des Zweiten Weltkrieges und endgültig am einsamen Tod von
Aljechin im portugiesischen Exil. Was für eine Bedeutung
muss das Schachspiel schon in der Zeit stalinistischer
Gewaltherrschaft gehabt haben, dass mit einem erklärten
Antikommunisten, Vaterlandsverräter und Nazikollaborateur
Verhandlungen geführt werden. Die abweichenden Meinungen
anderer wurden in der Regel im eigenen Land zigtausendfach
mit Genickschuss oder Zwangsarbeit und im Ausland mit einem
Eispickel im Schädel prämiert. Spielte Stalin Schach? Ich
weiss es nicht, doch hierin ist die Ursache für soviel
Nachsicht auch nicht zu suchen. 1925 findet das erste
internationale Schachturnier in Moskau statt. Lasker,
Capablanca, Bogoljubow - die größten Schachspieler der Welt
brechen die „Kulturblockade“ und kommen in die Sowjetunion.
Im Schach hatten die Sowjets erstmals die Möglichkeit,
etwas tatsächlich, jenseits rein ideologischer Postulate,
zu beweisen. International anerkannter Erfolg, wie hat man
sich danach gesehnt. Der Nachweis, dass das System
funktioniert, dass man trotz aller Widerstände und Feinde,
knietief im Blut watend, nicht in die Irre ging. Lange
bevor sie ihr Volk ernähren, den Krieg gewinnen, in den
Kosmos fliegen würden, konnte man das Prinzip bestätigen
und dies nicht, wie von allen erwartet, mit der
Brechstange, sondern mit dem Geist. Diese Vision
rechtfertigte es, beide Augen zuzudrücken. Der amtierende
Weltmeister Aljechin, an dem man nun mal nicht vorbeikam,
durfte im Interesse des möglichen eigenen Triumphes nicht
kleingeredet werden. Der Herausforderer war schon ein
Prototyp des homo sovietikus, ein stalinistischer
Staatsbürger par excellence. Michael Botwinnik, der
Patriarch des sowjetischen Schachs, spielte erbarmungslos
und nutzte die Vorteile politischer Unterstützung für seine
Karriere skrupellos aus. Einer seiner Förderer war Nikolai
Krylenko, ein Vertrauter und Schachpartner Lenins, erster
sowjetischer Oberbefehlshaber, später Generalstaatsanwalt
und Kommissar für Justiz von Stalins Gnaden. Neben
Wyschinski, der sein Schachrivale und beruflicher Erzfeind
war, ein hasserfüllter Ankläger in den Schauprozessen der
angststarren dreißiger Jahre. Dieser Fanatiker legt den
Grundstein für den Höhenflug des sowjetischen Schachs. Den
Triumph seines Zöglings Botwinnik, der sich im Herbst 1938
in Holland als Herausforderer des Weltmeisters
qualifiziert, erlebt Krylenko nicht mehr. Sein eigenes
Spiel kann er nur verlieren. Früher im Jahr gerät er in die
bisher von ihm selbst bediente Knochenmühle und wird
zermalmt. Der Henker als Opfer. Wie mag Botwinnik das
Turnier bestritten haben, darum wissend, dass er nun der
Liebling eines Volksfeindes ist. Wie kalt muss man sein,
wie überzeugt, um unter diesen Umständen in die Sowjetunion
zurückzukehren. Das war der ultimative Treuebeweis des
Genossen Botwinnik. Da nimmt es nicht Wunder, dass dem Mann
neben einer bedeutenden sportlichen Karriere auch Erfolg
als Funktionär beschieden war.
Kriegsschauplatz
Die im alltäglichen Gebrauch etablierten Sprachbilder, die
dem Schach entlehnt sind, geben sich durchweg negativ, ja
gewalttätig. „Jemanden in Schach halten“ ist wohl das
populärste Beispiel und das mussten die Sowjets reichlich,
bei einer entmündigten Bevölkerung. „Schach matt“ - Tod dem
König, vielleicht liegt es ja an dieser latenten
Aggressivität, dass Schach überwiegend eine Männerdomäne
geblieben ist. Die Sowjetunion stellte zwar von 1950 bis
1991 die Weltmeisterinnen, doch konnte dies nie auch nur
annähernd die Bedeutung des Männerschachs erlangen. Hat
Schach in der Sowjetunion seinen Ursprung in der Hybris von
fanatischen Kerlen, die ums Verrecken die Welt verbessern
mussten? Der Architekt der Roten Armee, Leo Trotzki,
erklärte 1918: „Militärdoktrin muss auf Fachkompetenz und
gesammelter Erfahrung beruhen. Ideologische Spekulationen
sind fehl am Platz. Wie beim Schachspielen kann man sich
auch in der Kriegsführung nicht von Marx leiten lassen.“
Man sagt das Schachspiel ist ein Bild des Krieges. Das ist
Blasphemie. Manche Spieler tönen, dass sie ihre Gegner
zerstören, zerschmettern, vernichten wollen. Starke Worte.
Der Leningrader Schachtheoretiker Pjotr Romanovskij
schreibt Dezember 1941 aus dem eingeschlossenen Leningrad
in einen Brief: „Es gibt das stumpfe Wort ‚müssen‘, dem
alles unterzuordnen ist. … Dagegen kann ich nichts tun. …
Während ich jetzt schreibe, zittern mir bei 19 Grad Kälte
die Hände. … Gegenwärtig bin ich über einer Arbeit, die
gewissermaßen der Traum meines Schachlebens ist und sich
«Götzenanbetung und Fetischismus sowie ihr Einfluß auf das
schachliche Denken» betitelt. Ein sehr schwieriges, aber
dankbares Thema, das vor allem Fragen des Konservatismus im
schachlichen Denken berührt.“ Drei Monate später nimmt der
inzwischen Evakuierte die Korrespondenz wieder auf: „In
Leningrad ist mit meiner Familie eine Katastrophe
geschehen. Am 6. Januar starb Agnessa Wassiljewna, am 10.
Januar Swetlana, am 14. Januar mein Goldkind Anja, am 22.
Januar Rogneda und am 26. Januar Kira. Nun bin ich allein.
Dass mir gleich alle fünf in dem von Gräbern übersäten,
verschneiten und zerstörten Leningrad genommen wurden, kann
ich nicht fassen. Mein Schmerz ist unbeschreiblich. Eine
halbe Stunde vor ihrem Tod hatte mir Anjutka noch
zugelächelt und gesagt: ‚Papotschka, Allerliebster,
Allerbester, wir wollten doch nach dem Süden fliegen.‘ Kurz
darauf verfiel sie in Schweigen, öffnete aber noch einmal
die Augen, holte tief Luft und schied dahin ... Nach dem
Weggang meiner letzten Tochter Kirotschka machte ich mich
wieder an eine neue, sehr schwierige schachhistorische
Arbeit.“ Anfang 1943 endet mit der Kapitulation der
deutschen 6. Armee die Schlacht von Stalingrad. Sie kostet
über eine Million Menschen das Leben. Im Februar findet in
Moskau ein Schachturnier zu Ehren des 25. Jahrestages der
Roten Armee statt. Pjotr Romanovskij ist einer der neun
Teilnehmer. Ob er seine Gegner am Brett vernichtet?
Spielfeld
der Geheimen
Es ist kein Novum, dass die meisten russischen
Revolutionäre von Schach fasziniert waren. Verblüffend ist
trotzdem, dass die intensivste Förderung des Sports aus den
Institutionen der Repression, dem Geheimdienst, den
Justizorganen und dem Militär erfolgte. Zufall? Schwer zu
glauben, nahe liegender ist der Gedanke, dass die
entschlossensten und fähigsten Köpfe diese Schlüsselstellen
der Diktatur besetzten und deshalb die Erfolgsgeschichte
Sowjetschach hier ihren Anfang nahm. Im Sinne der
Spieltheorie ist Schach ein Spiel der vollständigen
Information, man ist immer über alle Schritte des Gegners
informiert. Der Traum aller Schnüffler. Und Schach ist ein
unkooperatives Spiel, der Gewinn einer Seite ist der
Verlust der Anderen. Bist du nicht für uns, bist du gegen
uns! Das NKWD hatte einen eigenen Schachklub - «Dynamo».
Den führte Boris Weinstein, der gleichzeitig dem
sowjetischen Schachverband vorstand und hauptberuflich als
Leiter der Wirtschaftsabteilung direkt dem Chef des NKWD
Berija unterstellt war. Dieser Weinstein war es, der die
Bemühungen des Schachmeisters Botwinnik, gegen den
Exilanten Aljechin anzutreten erfolgreich hintertrieb. Ein
Protegé Weinsteins war es auch, der erstmals den
Weltmeister Botwinnik herausforderte. David Bronstein
brachte ihn 1951 in arge Bedrängnis und nur mit
allergrößter Mühe und Dank grober Fehler des
Herausforderers in der entscheidenden Partie, erreichte
Botwinnik ein Unentschieden und blieb Weltmeister. Dieser
Kampf, inszeniert auf der Bühne der Tschaikowski
Konzerthalle in Moskau, machte die Kontrahenten zu
erbitterten Feinden. Botwinnik behauptete später, dass
Bronstein durch Mitarbeiter des KGB, die Anhänger des Klubs
«Dynamo» waren, aus dem Saal heraus lautstark unterstützt
wurde, was ihn enorm irritierte. Es ranken sich viele
Legenden um das Spiel, die alle darauf hinauslaufen, dass
Bronstein letztlich gezwungen wurde, das Match zu
verlieren. Denn auch Botwinnik hatte Unterstützer im
Sicherheitsapparat und vorgeblich war es der Sowjetführung
nicht recht, dass Bronstein, dies war auch der Geburtsname
Trotzkis, Weltmeister wurde und damit die Sowjetunion im
Ausland repräsentierte. Angeblich wurde Bronstein mit
seinem Vater unter Druck gesetzt, der schon einmal von 1937
bis 1944 als politischer Häftling im GULag gesessen hatte
und nun das Spiel seines Sohnes aus dem Zuschauerraum
heraus verfolgte. Der Vater als Geisel, der Sohn bloß Figur
in einem größeren, nicht zu überschauenden Spiel finsterer
Mächte. Solche Geschichten wuchern gern im Garten der
Diktatur, im Dickicht des Geheimen. Der prinzipielle
Nonkonformist David Bronstein hat diese Gerüchte später
zurückgewiesen und der linientreue Michail Botwinnik gab
zwar zu, dass ihm von offizieller Seite mehrfach im Laufe
seiner langen Karriere angeboten wurde, die Partien seiner
Konkurrenten zu manipulieren, will davon aber niemals
Gebrauch gemacht haben.
Eine
große Familie
Wer oder was ist eigentlich gemeint, wenn vom sowjetischen
Schach die Rede ist? Zyniker sprachen ja bald vom
Völkergefängnis Sowjetunion. So finden sich unter den
Weltmeistern Russen, Georgier, Letten, Asebaidshaner -
heute alles souveräne Staatswesen. Nehmen wir Botwinniks
Konkurrenten Paul Keres. Estland hatte sich nach der
Oktoberrevolution die Unabhängigkeit erstritten und Keres
gehört zur ersten Generation, die nach 700 Jahren
Fremdherrschaft in einer Atmosphäre nationaler
Selbstbestimmung aufwächst. Mit Anfang Zwanzig gehört er
unbestritten zur Weltspitze des Schachs und zur Elite der
Nation. Doch der nationale Renaissance bleibt nicht viel
Zeit. Im geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes
ist das Schicksal der Balten schon besiegelt. 1940 besetzt
die Rote Armee das Land und das NKWD lässt das Volk zur
Ader. Für Keres ist die Transformation zum sowjetischen
Spieler der Preis des Überlebens. 1941 besetzt das
faschistische Deutschland das Baltikum und Keres arrangiert
sich erneut. Er sichert die Existenz seiner Familie mit
Simultanpartien für die Wehrmacht und durch die Teilnahme
an Turnieren im faschistischen Europa. 1944 sind die
Sowjets endgültig zurück und füllen die Straflager
Sibiriens mit Balten. Und wieder wird Keres seines
überragenden Schachtalents wegen verschont. Als 1948 die
fünf weltbesten Schachspieler um den seit Aljechins Tod
verwaisten Schachthron spielen, ist der Este hoher Favorit.
Sein überraschend schlechtes Abschneiden bei diesem Turnier
hatte natürlich sofort wieder eine prächtige
Verschwörungstheorie zur Folge. Unter der Hand wurde die
Schwäche gern mit erzwungenem Zurückstecken dem
linientreuen Kommunisten Botwinnik gegenüber begründet. Wen
würde es wundern in einem System, das Individualität und
Professionalität nur zuließ, wenn sie der Legitimation des
Regimes und der Bestätigung ideologischer Dogmen dienten.
Keres hat immer bestritten, Botwinnik den Vortritt gelassen
zu haben und solange keine anders lautenden Unterlagen
darüber auftauchen, wird dieser Gedanke, so schlüssig er
scheinen mag, eine Latrinenparole bleiben.
Schlachten
im kalten Krieg
Eins ist sicher, Schach bot Anerkennung, einen gewissen
Schutz vor der stalinistischen Schreckensherrschaft und
materielles Wohlergehen weit über dem Durchschnitt. Damit
war das Spiel in der UdSSR unbestritten außerordentlich
attraktiv. Die sowjetische Schachmaschine gewann an Fahrt.
Der Weltmeistertitel war im Land und hochwillkommene
Munition im kalten Krieg. Die Talentsuche wurde streng
planwirtschaftlich aufgezogen. Tausende von Schachklubs in
Großbetrieben, Kolchosen, Pionierhäusern sorgten für die
Verbreitung des Spiels in den entlegensten Regionen, vom
Staat ausgebildete und bezahlte Schachlehrer erschlossen
das Potential des riesigen Reiches und delegierten die
jeweils besten Spieler an die nächsthöhere Schachschmiede.
In einem Land, in dem es eigentlich immer an allem
gemangelt hat, wurde Schachliteratur in riesigen Auflagen
gedruckt, wurden Turniere finanziert, Studiengänge
eingerichtet, medizinische, psychologische, mathematische
Forschung betrieben - kurz, es wurden enorme Ressourcen
mobilisiert, um den Erfolg zu erzwingen. Und der blieb
nicht aus. Im eigenen Land erwuchs dem Altmeister Botwinnik
die stärkste Konkurrenz. In der so genannten
„Tauwetterperiode“ nach Stalins Tod verliert er den Titel
zwei mal an seine Herausforderer. Wassili Smyslow, der
feinsinnige Sänger und Michael Tal, der lettische Bohemien,
sind Söhne ihrer Zeit. Alles an ihnen atmet den Beginn.
Kunstsinnig und romantisch stürmen sie die Bastionen der
alten, kalten Herren. Doch der Amtsinhaber setzt sich mit
allen Mitteln zur Wehr und gewinnt jeweils die Revanche.
Der Wiedergänger - die Schatten der Nacht sind lang. Zu
lang, wie sich herausstellt, 1964 leitet Breschnew nach
Chruschtschows Sturz die Restauration ein. Das Land
erstarrt im Würgegriff der Bürokratie. Ein Jahr zuvor ist
der Altmeister Botwinnik von einem nüchternen Taktiker
endgültig abgelöst worden. Der Georgier Petrosjan, der
„eisernen Tigran“, ist Weltmeister. „Das fehlerfreie Spiel
ist unerreichbares Ideal im Schach. Gerade das Streben,
möglichst fehlerfrei zu spielen, fesselt mich.“ Er wurde
gern als der „beste Verteidiger“ bezeichnet. Genau, immer
schön in Deckung bleiben und bloss kein Risiko eingehen,
dies war die Stunde der Konformisten. Aufbruch blieb ein
Traum, der im Prager Frühling 1968 von Panzern der
ruhmreichen Sowjetarmee endgültig zermalmt wurde. Eiszeit
im kalten Krieg. Nicht von ungefähr etabliert sich zu
dieser Zeit ein neues politisches Schlagwort - Patt. Bis
zum Schach Matt sollte es noch über zwanzig Jahre dauern.
Doch bis es soweit war, gierte die Sowjetunion nach
Anerkennung, dies war das Adrenalin, das den siechen Körper
auf Trab hielt, vom ersten bis zum letzten Tag. Die besten
Sportler, die gewaltigsten Bauwerke, die schrecklichsten
Bomben - höher, schneller, weiter - bis das Fleisch von den
Knochen fällt, bis zur Selbstzerstörung. Das Regime,
repressiv und abgekapselt, lechzte nach Respekt und Beifall
der Welt, als Gegengift für das kaputte Selbstwertgefühl.
Schachgrossmeister Taimanow sprach einmal von den drei
Stützen der sowjetischen Propaganda: Schach, Zirkus und
Ballett. Bezeichnender weise war für Schachfragen die
Abteilung Ideologie im Zentralkomitee der KPdSU zuständig.
Im Frühjahr 1945, die Geschützrohre vor Berlin glühten
noch, entstand die Idee zu einem Radiowettkampf UdSSR gegen
USA, den die im Westen weitgehend unbekannten sowjetischen
Schachspieler im Herbst gleichen Jahres triumphal gewinnen.
Dies ist der Beginn einer langen Erfolgsserie die 1970 in
der Partie Kosmos - Erde und natürlich der legendären
Veranstaltung Sowjetunion gegen die Welt gipfelt. Die
Sowjets entscheiden das Turnier für sich und scheinen
unbesiegbar! Das System hat sich stabilisiert, fühlt sich
technologisch, militärisch und kulturell dem Westen
ebenbürtig, wenn nicht überlegen. Das fantasielose
Politbüro erstarrt im Zustand des Größenwahns. Es regnet
Ordensblech. Aber der Versuch, den Erfolg zu konservieren,
soll sich bald als Irrweg erweisen, der geradewegs und
ungebremst in eine sklerotische Agonie führt. Denn trotz
allen Gelingens der Siebziger, die Maschine hatte schon
Rost angesetzt.
Seit 1937 machen die sowjetischen Spieler die
Weltmeisterschaft unter sich aus. Boris Spasski trägt den
Titel seit 1969. Spasski war kein Kommunist aber er war ein
guter Sowjetbürger. Vermutlich sogar ein Patriot -
allerdings ein russischer. Er war sich seines Wertes für
das Regime sehr wohl bewusst. Er verstand es zu leben und
seine Unabhängigkeit durch provokative Bemerkungen zu
unterstreichen. Seine gebildete und kultivierte Lebensart
fand auch im Westen seine Freunde. 1972 trat er zur
Verteidigung seines Weltmeistertitels in Reykjavík gegen
den Amerikaner Bobby Fischer an. Das es überhaupt soweit
kommen konnte, hätten sich sowjetische Schachfunktionäre
noch vor zwei Jahren nicht träumen lassen. Der schon
erwähnte Taimanow traf auf Fischer im Ausscheidungsturnier.
Er verlor alle Partien, nicht weil er wollte, sondern weil
Fischer einfach besser spielte. Die Politbürokraten waren
bestürzt, fühlten sich vorgeführt. Die Rache des Systems
ließ nicht lange auf sich warten. Taimanow, bisher nett in
seinem Schachbiotop eingerichtet, erlebte die Vertreibung
aus dem Paradies: Ausschluss aus der Nationalmannschaft,
Reise- und Veröffentlichungsverbot, Streichung der
monatlichen Bezüge, Aberkennung des Ehrentitels «Meister
des Sports» und (einfach aus Gemeinheit) Auftrittsverbot
als Pianist. Der Mann, gerade noch der Elite angehörend,
war von einem Tag auf den nächsten stigmatisiert. Man ging
auf dünnem Eis, nicht nur 1936 sondern auch 1971, während
des goldenen Zeitalters, von dem die Veteranen bis zum
heutigen Tage schwärmen. Spasski war gewarnt, dieser Kampf
hatte weniger mit ihm als Person zu tun, vielmehr hatte er
den Auftrag von Partei und Gesellschaft bekommen, die
Überlegenheit der sowjetischen Ideologie zu bestätigen. Die
westliche Presse griff das Thema begierig auf und so wurde
das Turnier um die Schachweltmeisterschaft in Island zu
einer Entscheidungsschlacht im kalten Krieg hochstilisiert.
Der Individualist Fischer als Vertreter der freien Welt,
gegen den Zögling der sowjetischen Schachmaschinerie
Spasski, eine Marionette des Reichs der Finsternis. Nie
wieder hatte Schach so eine Öffentlichkeit, nie wieder war
es so populär und niemals war eine Schachturnier stärker
ideologisch aufgeladen. Es war das Spiel des Jahrhunderts
und nichts war wie es schien. Spasski war nicht urbildlich
für die Erwartungen des Westens. Er war keine kalte
Schachmaschine, nicht linientreu und verbissen. Im
Gegenteil, sein Auftreten war freundlich, weltgewandt und
gesprächig. Dagegen gab Fischer den exzentrischen
Außenseiter, geldgierig und asozial. Er brachte die
Veranstalter durch seine Anwälte mit einer Flut exaltierter
Sonderwünsche an den Rand der Verzweiflung und gefährdete
willentlich immer wieder das gesamte Turnier. Wenn Spasski
nach Reykjavík kam um „ein Schachfest zu feiern“, war
Fischer in Island, um die Sowjets zu erledigen. Er war für
den Westen der mediale Supergau und ihn rettete nur die
Tatsache, dass er siegte. Nun war Fischer eine Legende. Das
bewahrt ihn allerdings nicht davor, mehr und mehr in eine
paranoide Parallelwelt abzugleiten. Er wird seinen Titel
nie verteidigen. Doch auch die sowjetischen Funktionäre
sind nicht frei von Verfolgungswahn. Weil nicht sein kann
was nicht sein darf, unterstellen sie Sabotage, beschweren
sich über „schachfremde Mittel“, bemühen Experten für jede
noch so abwegige Idee, um das Unabänderliche zu kaschieren,
die Niederlage. Die Welt war aus den Fugen. Na ja, nicht
wirklich. In der poststalinistischen Gesellschaft hatten
bloß die alten Mythen wieder Konjunktur: Verschwörung,
Spionage, Diversion. Dieses allgegenwärtige Misstrauen, der
Geburtsfehler des Systems, schlägt wieder durch und
spätestens jetzt kommt auch sein Symptom, der allmächtige
Geheimdienst, wieder ins Spiel. Der KGB, obgleich schon die
ganze Zeit vor Ort, führt eine Untersuchung durch und wird
sich in Zukunft auch wieder verstärkt um das Prestigefeld
Schach bemühen. In der allgemeinen Fassungslosigkeit blieb
sogar die Bestrafung Spasskis aus.
Das
Spiel ist aus
Die Sowjets haben aus dem Debakel von 1972 ihre Schlüsse
gezogen. Ihr nächster Aspirant für die Weltmeisterschaft
ist Anatoli Karpow. Er ist das Gegenteil von einem
sowjetischen Dandy, als der Spasski mitunter bezeichnet
wurde. Er ist bis zur Selbstaufgabe diszipliniert, als
Mitglied des Zentralkomitees des kommunistischen
Jugendverbandes Komsomol fest im System verankert, bar
jeder Extravaganz und mit dem Charme eines toten Fischs
ausgestattet. Genau genommen ist Karpow der Typus des neuen
Menschen, von dem schon Lenin träumte. Seinem Talent
entsprechend hochspezialisiert geht er willig im Kollektiv
auf, ist ein Rädchen im großen Getriebe, unauffällig,
fleißig und gehorsam. Da der selbstzerstörerische Fischer
sich weiter in antikommunistischen und antisemitischen
Alpträumen verstrickt und nicht mehr antritt, kann sich
Karpow 1975 in einer feierlichen Zeremonie im Säulensaal
des Hauses der Gewerkschaften in Moskau zum Weltmeister
krönen lassen. Was für ein Ort! Hier wurden die toten
Parteiführer aufgebahrt, hier fanden die berüchtigten
Schauprozesse statt, hier ging es nie bloß um Individuen,
dies ist heiliger Boden, auf dem sich traditionell das
Regime feiert. Karpow ist der Liebling der Nomenklatur und
Bewahrer des Status quo. Andern wird es eng in der Heimat.
Viktor Kortschnoi, Karpows gefährlichster Rivale, fehlt die
Luft zum Atmen. 1976 bleibt er im Westen und wird in der
Logik der Apparatschiks zum Staatsfeind und Verräter. Es
wiederholt sich das Aljechin-Phänomen, den sich, auf den
ersten Blick paradox, das Regime nach seinem Tode
konsequent einverleibt hat - regelmäßig fanden in der
Sowjetunion Alexander Aljechin Gedenkturniere statt. Der
Exilant Kortschnoi ist noch sehr lebendig und an seiner
Meisterschaft im Schach kommt man nicht vorbei. 1978 spielt
der Parteisoldat Karpow gegen den Dissidenten Kortschnoi um
den Weltmeistertitel. Zwar wird gebetsmühlenartig die
Formel von Entspannung und friedliche Koexistenz
heruntergeleiert, doch das ist Fassade. Zwei Beispiele: in
Afghanistan wird ein kommunistischer Umsturz organisiert
und ein polnischer Antikommunist wird Papst. Die Fronten
verhärten sich und der Ton wird wieder rauer. Entsprechend
groß ist das mediale Echo auf die Begegnung der zwei
Denksportler. Karpow obsiegt und diesmal können die Sowjets
die Propagandaschlacht schlagen. Umgehend wird er vom
Staats- und Parteichef Breschnew empfangen und mit dem
Orden «Banner der Arbeit» ausgezeichnet. Drei Jahre später
hat sich abermals ausgerechnet Kortschnoi als
Herausforderer des Weltmeisters qualifiziert und erneut
kann dieser den Titel verteidigen. Wieder gibt es den Dank
des Vaterlandes in Form von Blech, diesmal ist der
«Lenin-Orden» fällig. Es ist 1981 und auf der großen Bühne
wird der Ton nun grob: Um bei den gewählten Beispielen zu
bleiben, die Sowjets sind unterdessen in Afghanistan
einmarschiert und in Rom wird der Papst Johannes Paul Il.
bei einem Attentat lebensgefährlich verletzt.
Auch wenn der Triumph umfassend scheint, der Krieg ist
schon verloren und es werden nur noch die letzten
Rückzugsgefechte geschlagen. 1982 leitet Breschnew das
große Sterben der alten Garde ein und auch der Reformer
Gorbatschow wird mit seinen wenig originellen Ideen, die
bezeichnender weise für den Ostblock trotzdem atemberaubend
schienen, das Ende des kommunistischen Experiments nicht
verhindern. Doch wie ein Sterns an seinem Ende als
Supernova nochmals erstrahlt, brachten Glasnost und
Perestroika kurz Licht und Fantasie in einen grauen, zähen
Alltag. Garri Kasparow war der neue Stern am Schachhimmel.
Schon 1984 forderte er, erst einundzwanzigjährig, den alten
Champion heraus. Souverän ging Karpow mit 4:0 in Führung,
doch Kasparow kämpfte sich zäh auf 5:3 heran. Das
Endlosturnier wurde nach 48 Runden und 300 Spielstunden
abgebrochen. Aus Rücksicht auf die Gesundheit der beiden
Kontrahenten, wie es hieß. Karpow war zu diesem Zeitpunkt
schon mehrfach ins Krankenhaus eingeliefert worden und
hatte 11 Kilogramm Körpergewicht verloren. Aber das Alte
wollte, konnte nicht weichen. Ein Jahr später war es dann
so weit, Gorbatschow wurde Generalsekretär der KPdSU und
damit mächtigster Mann des Ostblocks und Kasparow wurde
Schachweltmeister. Der eine Zögling des Apparats und
gleichzeitig sein Totengräber, der andere gelehriger Spross
der sowjetischen Schachschule und gleichzeitig ein Symbol
des Aufbruchs.
Schlussbetrachtung
Lässt sich tatsächlich ein Bezug zwischen den
unterschiedlichen Persönlichkeiten der jeweiligen
Schachweltmeister und den politisch-gesellschaftlichen
Verhältnissen herstellen? Sind in diesem Papier tatsächlich
die Schlüsselstellen in der Geschichte des sowjetischen
Schachsports berücksichtigt? Ist es legitim, das eine wie
das andere für meine Zwecke zu instrumentalisieren? Wie
gesagt, ich bin weder als Spieler noch als Analyst ein
Schachprofessioneller. Muss ich auch nicht sein, um mir
einen subjektiven Blick auf die Geschichte zu leisten. In
meiner Erinnerung wurde unendlich viel gequatscht, es
ergoss sich ein unermesslicher Strom offizieller
Verlautbarungen, Erklärungen, Belehrungen aus den,
sämtlichst vom Regime kontrollierten Kanälen, es war das
nervtötende Grundrauschen der allmächtigen Politbürokratie,
die allgegenwärtige Fahrstuhlmusik des Ostblocks. Schach,
ein stummes Spiel, was für eine Wohltat in Zeiten, in denen
Worte belanglos, Propaganda oder Verrat sind.
Die vorliegende Materialsammlung postuliert einen
Ausgangspunkt für eine filmische Erzählung. Sie ist
zwangsläufig amorph und unvollständig. Vieles hat keine
Berücksichtigung gefunden. Was ist zum Beispiel mit der
Kehrseite der Förderung durch den Geheimdienst? Spielte
Schach im GULag eine Rolle, oder zahlte man hier nur der
Preis? Warum konnte in einer Gesellschaft, in dem das
Aufgehen im Kollektiv als Ideal formuliert war, ein Spiel
wie es individueller nicht sein kann, so massive Förderung
erfahren? Vielleicht weil die allgegenwärtige Partei,
entgegen allen gegenteiligen Beteuerungen, das Volk eben
niemals an der Macht beteiligen wollte, die von einer
kleinen Funktionärselite im Politbüro, bzw. im Extremfall
ausschließlich vom Generalsekretär gekapert war. Vom
Standpunkt der Psychoanalyse aus logisch, es gibt nur den
einen König (= Idee), auf den sich alles fokussiert, der
dem Kampf, der Arbeit, dem Tod einen Sinn verleiht.
Andererseits ist die Figur des Königs im Schach nicht ohne
Tragik, er ist was seine Spielstärke, seinen Aktionsradius,
seine Einflussmöglichkeiten angeht, zu einer relativen
Impotenz verurteilt. Fällt er, ist das Spiel zwar zu Ende,
aber gespielt wird es überwiegend von anderen Figuren.
(Jetzt mal vom großen Strippenzieher am Spielfeldrand
abgesehen.) Machtvertikale ist ein Wort, das der Präsident
Russlands, Wladimir Putin, sehr schätzt. Der
Ex-Geheimdienstler gibt sich noch nicht einmal Mühe zu
kaschieren, dass er zwar die Farben gewechselt aber immer
noch das gleiche Spiel spielt. Ironie der Geschichte ist,
dass ausgerechnet Garri Kasparow seinen mit Schach nach dem
Ende der Sowjetunion verdienten Reichtum dazu verwendet,
für die nächste Präsidentenwahl in Russland das
Oppositionsbündnis «Komitee 2008» zu schmieden. Den
Weltmeistertitel hat er am Schachbrett an seinen Schüler,
den Technokraten Kramnik, verloren. Nun kämpft er auf der
großen Bühne weiter. Lenin hat das Schach politisiert,
jetzt gehen die Spieler in die Politik. Der Kreis schließt
sich.
„wie
kleine nun der fende (= Bauer im Schachspiel) sî,
sô ist er doch alsô frî,
daz er dem künic sprichet schâchmat.“
Konrad von Ammenhausen, «Schachzabelbuch», 1337